Dienstag, 28. April 2015

Der tödliche Pass, 76


Rezension


Der tödliche Pass
Magazin zur näheren Betrachtung des Fußballspiels
Heft 76, April 2015
86 S.






Als „persönliche Hommage an Charlie Hebdo“ portraitiert Albrecht Sonntag „meine liebsten Fussball-Hasser“. Er beschreibt den ungleich höheren Stellenwert von Satire und Karikatur in Frankreich in der öffentlichen Debattenkultur und im politischen Alltag. So gibt es in der französischen Presselandschaft „weit und breit keine BILD-Zeitung, aber dafür jede Menge satirischer Magazine und Wochenzeitschriften.“ Dogmen aller Art werden radikal attackiert und angeprangert. Charlie Hebdo vertrat dabei die Tradition marxistischer Sportkritik, die den Fußball als zynisches Medienspektakel mit Parallelen zur Religion und der politischen Funktion der Volksverdummung durch Panem et circenses sieht, wie Sonntag beschreibt: „Der ästhetischen Dimension dieses Spiels war man vollkommen unempfindlich.“ Er stellt die Fußballkritik in die Tradition französischer Religionskritik und Satire-Tradition seit der Aufklärung des 18.Jh.
Höhepunkt der Fußball-Beschäftigung von Charlie Hebdo war ein Sonderheft, das zur WM 1998 erschien. Die in den einzelnen Text- und Bildbeiträgen kritisierten skandalösen Zustände haben 17 Jahre später nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt, stellt Sonntag fest: „Korruption bei der FIFA, verharmlostes Doping auf allen Ebenen, Gewalteskalation im Stadion, Spielmanipulationen, Rassismus und Diskriminierung, schamlose Inanspruchnahme öffentlicher Gelder, moderner Sklavenhandel mit Talenten aus der dritten Welt, dumpfer Chauvinismus vom Dorfclub bis zur Nationalmannschaft, groteske Spielergehälter bei gleichzeitig exorbitanter Verschuldung der Vereine, gierige Gehirnwäsche durch Sponsoren aller Art, ...“
Die Lektüre rege zur Selbstbefragung an, wieso man so sehr im Fußball verhaftet ist und aus emotionaler Anziehung Missstände verdränge. Sonntags Schluss: „Man muss den von Charlie Hebdo gepredigten Fußball-Hass nicht teilen. Aber die Fragen, die er aufwirft, helfen zweifellos, den Fußball besser zu verstehen.“

Weiters gibt es im Heft einen Artikel von Jan Tilman Schwab über einen während der südafrikanischen Apartheid-Diktatur 1973 entstandenen Blaxploitation-Fußballkrimi namens Joe Bullet sowie lesenswerte Buchrezensionen. Claus Melchior rezensiert etwa Arthur Heinrichs Biographie des Martin Abraham Stock und beurteilt den aktuellen Referenzband zur österreichischen Fußballgeschichtsforschung zur NS-Zeit Fußball unterm Hakenkreuz in der „Ostmark“ zutreffend als „vorbildliche Fußballgeschichtsschreibung von höchster Qualität“, die in facettenreichen Darstellungen den erreichten Erkenntnisstand dokumentiert.

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